Die Tiefenpsychologie ist ein heterogener Therapieansatz innerhalb der wissenschaftlich anerkannten Verfahren. Was es mit dem Begriff auf sich hat und was hinter dem Begriff in Theorie und Praxis steckt, erfahren Sie in diesem kleinen Essay.

Höre ich den Begriff Tiefe, dann denke ich an einen Ozean. An der Oberfläche dringen die Sonnenstrahlen noch durch das Wasser durch; je weiter es nach unten geht, desto dunkler wird. An tiefen Stellen ist es so dunkel, dass man ohne externe Lichtquelle nichts mehr erkennen kann. Wenn ich mir dieses Bild selbst vorstelle, löst es eine latente Angst oder zumindest Beklemmung aus. Ich denke genau das ist es, was die Tiefenpsychologie manchmal mit einem mystischen Schleier umgibt, bei dem man irgendwie das Gefühl, dass man eine Idee hat, worum es dabei geht, aber es nie so ganz erfassen kann. Um ein bisschen Licht auf den Grund des Meeresbodens zu bringen, haben ich mich entschieden diesen Essay zu schreiben. Ich widme ihm meinem Lehrer Wolf Büntig, der 2021 verstarb und der meine therapeutische Haltung und mein Denken, wohl am meisten geprägt hat.

Begriffsherkunft

Historisch gesehen geht der Begriff auf Eugen Bleuler, einem Schweizer Psychiater, der sich früh mit dem Störungsbild der Schizophränie auseinandersetzte, zurück. Bleuer und seine Nachfolger wollten sich dabei von der damals populären akademischen Psychologie abgrenzen. Ab 1913 sprach auch Sigmund Freud, dem Vater der Psychoanalyse, von Tiefenpsychologie. Sigmund Freud und seine Schüler hatten dabei eines gemeinsam. Sie gingen davon aus, dass das Erleben und Verhalten der damaligen KlientInnen Kräfte zugrunde legten, die diesen unbewusst waren. Betrachtet man das Verhalten und bewusste Erleben von Menschen als das beobachtbare, das über der Oberfläche liegt, so kann das darunter in der „Tiefe“ liegende als das Unbewusste betrachtet werden. Die frühen Tiefenpsychologen hatten dabei gemeinsam, dass sie in diesem Unbewussten die Ursache für das Leiden ihrer KlientInnen sahen. Es zu erforschen und unbewusstes bewusst zu machen, sahen sie als ihre Hauptaufgabe an.

Dimensionen von Tiefe

In der Praxis kommt es häufig vor, das KlientInnen zu mir geschickt werden, nachdem VerhaltenstherapeutInnen mit ihrem Vorgehen nur bedingt erfolgreich waren. Wenn die Veränderung an der Oberfläche, also am Denken und Verhalten nicht erfolgreich war, geht es also in die Tiefe und man schaut sich im Rahmen einer Tiefenpsychologie oder Psychoanalyse die unbewussten Beweggründe einer psychischen Erkrankung an.

Zeitliche Dimension

Tiefe hat dabei verschiedene Dimensionen. Die erste Dimension ist die zeitliche Tiefe. Während man bei einer Oberflächentherapie weniger Wert auf die Ursachen einer Erkrankung legt und man sich mehr auf die Lösung konzentriert, geht die Tiefenpsychologie stärker auf Ursachensuche, nämlich in die Vergangenheit. Teil einer tiefenpsychologischen Behandlung ist es, sich näher mit dem eigenen so-geworden-sein wie man ist auseinanderzusetzen. Dem Entwicklungsmodell in den Tiefenpsychologien liegt zugrunde, dass es für eine gesunde Entwicklung, bestimmte Bedingungen braucht. Für ein Kind bedeutet das auf der psychologischen Ebene ein gesundes Ausmaß an Bindung, Autonomie, Wertschätzung und Orientierung. Sind diese Faktoren nicht vorhanden, kann ein Mensch sein Potential nicht voll entfalten und es ist wahrscheinlicher, dass es später zu Störungen, im Sinne von „ich wurde bei meiner gesunden Entwicklung gestört, statt  einfach nur „ich bin gestört“. Diese Störungen wurden dabei oft verdrängt und können als ein Teil der Arbeit mit der Zeit an die Oberfläche geholt werden, sodass ein realistischeres Narrativ (Geschichte) der eigenen Entwicklung entsteht.

Die emotionale Dimension

Die Tiefenpsychologie ist aber keine reine Vergangenheitsanalyse. Inzwischen glauben nur noch wenige Psychoanalytiker, dass das Kernstück der tiefenpsychologischen Arbeit das reine Bewusstwerden von Traumata oder Entbehrungen in der Vergangenheit ist. Ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass das reine Bewusstwerden, oftmals nur noch depressiver macht. Was bringt es einem, wenn es einem schon schlecht geht und man jetzt zumindest weiß warum? Neuere Forschung hat gezeigt, dass das emotionale durchleben eine besondere Bedeutung einnimmt. Es geht also nicht nur darum das was man erlebt hat zu verstehen, sondern stattdessen im Rahmen einer haltgebenden Beziehung noch einmal emotional zu erfahren. Das emotionale durchleben, im Sinne eines Spürens, Erfahrens, BeGreifens und Betrauerns, führt kann dann zu einer Neueinordnung führen. Die KlientIn kann danach sagen, „so ist es gewesen, aber heute ist es anders“. Auch andere Schulen der Verhaltenstherapie haben die Bedeutung der Emotionen für sich entdeckt. Die Bedeutung für heilsame Erfahrungen in der Therapie waren jedoch in der Tiefenpsychologie historisch gesehen früher von Bedeutung.

Die relationale Dimension

Die therapeutische Beziehung ist in der Tiefenpsychologie von zentraler Bedeutung. Auch hier kann von Tiefe gesprochen werden, da die Beziehung zwischen Klient und Therapeut von zentralerer Bedeutung ist, als in den meisten anderen Therapierichtungen. Die therapeutische Beziehung ist das für den Therapeuten in der Gegenwart erlebbare, was der Klient in Form von Gefühlen, einer gewissen Atmosphäre, Verhaltensweisen oder Gedanken auslöst. Im Gegensatz zur Verhaltenstherapie verwendet der Tiefenpsychologe sein subjektives Erleben als Messinstrument, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was den KlientIn unbewusst antreibt, und dieser vielleicht einst erlebt hat, was dann wiederum bewusst gemacht werden kann. Die dadurch entstehende Nähe kann ebenfalls tief verstanden werden.

 

Persönliches Fazit:

Genau diese drei Dimensionen, also die zeitliche mit dem Blick in die Vergangenheit, die emotionale durch das bewusste emotionale Erleben von Verdrängtem, sowie die relationale Dimension in Form einer engen Beziehung zwischen KlientIn und TherapeutIn machen die Tiefe in der Tiefenpsychologie aus.

Warum die Tiefe hierbei Unbehagen erzeugt, habe ich mir beim Schreiben des Essays noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Ich denke, dass ein ganz wichtiger Punkt ist, dass durch die Bedeutung des Unbewussten in den Tiefenpsychologien auch eine gewisse Unsicherheit einhergeht und wir Menschen lieben in der Regel Sicherheit und eine klare Orientierung.  Bei einer Tiefenpsychologie muss ich mich auf eine Reise mit Blick in eine teils unbewusste Vergangenheit machen. Ich muss mich auf einen Menschen einlassen, der mir zu Beginn dieser Reise noch unbekannt ist. Ich muss darauf vertrauen, dass dieser Mensch in guter Absicht und zu meinem Wohle handelt und mich unterstützt und begleitet, wenn ich auf tiefere, bisher unterdrückte Gefühle von Angst, Scham, Schuld oder Trauer bewusst werde. Alles das widerspricht unserer heutigen Konsummentalität, bei der ich bei Kaufabschluss weiß, wo die Reise hingeht und was ich davon habe. Ich kann die LerserInnen, die es bis zum Ende dieses Essays geschafft haben trotzdem nur ermutigen, sich zu trauen und auf den Weg in dieses unbekannte Terrain machen.