Inspiriert durch meinen Sohn schaute ich vor kurzer Zeit den Disney-Film Encanto. Vor dem Weiterlesen würde ich aber zunächst empfehlen den Film zu schauen, falls Sie das noch nicht getan haben. In meinen Recherchen zu dem Film stieß ich nur auf Rezensionen, die den Film unter Aspekten von kultureller Aneignung untersuchten. Was für mich als Psychotherapeut jedoch sehr viel wesentlicher ist, ist das Thema eines transgenerationalen Traumas im Film . Da es in eigentlich allen Familien größere oder kleinere Traumen und die damit verbundenen Auswirkungen gibt und dieses Thema uns somit alle betrifft, widme ich diesen Blogbeitrag dem Film.

Eine andere Heldengeschichte

Ich muss ehrlich gestehen, dass ich großer Fan von Disney’s Filmen bin. Die meisten Disney-Filme sind aus meiner Sicht deshalb so besonders, weil sie zwar oberflächlich für Kinder sehr unterhaltsam sind, auf einer tieferen Ebene allerdings fast immer gesellschaftliche Themen verarbeiten. Man denke nur an Mulan, die sich wider aller gesellschaftlicher Geschlechterrollen und Stereotype emanzipiert und anstatt ihres kranken Vaters selbst in den Krieg zieht. Typischerweise folgen die Filme aus dem Hause Disney dem Heldenepos, wonach eine Person ein Ruf ereilt, sie sich in ein Abenteuer stürzt, sie eine dunkle Macht bekämpft, sie während diesem Prozess selbst eine Transformation erfährt und sie letztlich verändert zurückkehrt.

Encanto ist anders. Die Geschichte beginnt nämlich damit, dass die eigentliche Heldin und Hauptfigur, Mirabel, im Gegensatz zu den anderen Familienmitgliedern keine besonderen Fähigkeiten besitzt. Sie ist nicht in der Lage, Blumen sprießen zu lassen oder schwere Dinge zu tragen wie ihre Schwestern Isabela und Lusieta. Sie kann auch nicht andere durch Köstlichkeiten zu heilen, wie ihre Mutter. Mirabel hingegen scheint keine magische Fähigkeit zu haben, weshalb sie von den Kindern des Dorfes auch verspottet wird, ihre Fähigkeit sei es ihre Andersartigkeit zu verstecken. Und dennoch erlebt sie sich zunächst als Teil der Familie:

„Isabela wirkt mit Blumen, die Stadt wird bunt (Isabela)
Ist perfekt, nicht ohne Grund
Und Luisa ist superstark
Die Schönheit und die Kraft sind autark“

Und am Ende: „Meine Familie ist wunderbar, und dazu gehör nun mal noch ich!“

Zugehörigkeit und Scham

Im letzten Satz deutet sie bereits leichte Selbstzweifel an. So scheint es ihr nicht selbstverständlich zu sein, Teil der Familie zu sein. Im weiteren Verlauf wird deutlich, dass Mirabel durch ihre scheinbar fröhliche Art Zweifel an ihrem Selbstwert und Gefühle der Scham verdeckt, da sie die einzige ist, die keine besonderen Fähigkeiten besitzt. Diese Scham führt sie in die Isolation und Einsamkeit. Scham über Mirabels fehlende besondere Begabung empfindet auch ihre Großmutter Alma. In der Vorbereitung auf das Fest des Cousins wird das Perfektionsstreben der Großmutter deutlich. Am Ende wird ihre innere Isolation unterstrichen, indem Mirabel nicht Teil des Familienfotos ist. Traurig resümiert Mirabel:

„Hey, ich bin doch noch Teil der Familie Madrigal
Nicht allein, ich bin nicht allein
Steh im Schatten und sehe euch schein’
So allein, ich bin allein.“

Die Schattenseite der Begabung

Nach diesem tragischen Moment entdeckt Mirabel die Risse im zauberhaften Haus der Familie. Sie lassen sich als  Ausdruck für das immer zerbrechlicher werdende Familienbild und den brüchig werdenden Zusammenhalt deuten. Letztlich ist dies der Moment ihrer eigentlichen Initiation; indem sich Mirabel heldenhaft auf die Suche nach der Ursache der Risse macht. Mit der Zeit werden diese Risse nicht nur in der Fassade des Hauses, sondern auch im Nachlassen der Fähigkeiten der anderen Familienmitglieder sichtbar. Ihre unmenschlich starke Schwester Luisa steht unter hohem Druck, immer stark zu sein. Einerseits brüstet sie sich mit ihrer Stärke:

„Für schwere Arbeit bin ich Expertin
Und meine Schale ist zu hart für ’nen Kerbel
Jedes Gestein, ja, ich trete es klein
Nichts zerbricht meine Kraft, es gibt nichts, was mich schafft“

Doch all das kann sie nur unter viel Anstrengung aufrechterhalten:
„Doch lass dich nicht blenden
Ich bin am Kämpfen, ein Drahtseilakt wie in ’nem Zirkus voller Menschen“

Und letztlich stellt sie fest:

„Druck, und es klickt, klickt, klickt, und mir fehlt der Halt, woah
Druck, und es tickt, tickt, tickt, bis es irgendwann knallt, woah
Gib es deiner Schwester, weil sie nichts aufhält
Woll’n wir doch mal seh’n, wie lange sie das aushält?
Wer bin ich, wenn ich die Kraft verlier?
Dann fall ich hier“

Luisa verkörpert dabei das Idealbild der starken Frau, das in unserer Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten klassischerweise eher an Männer herangetragen wurde, aber auch zunehmend an Frauen. Einerseits besitzt Luisa die Gabe von Stärke, Mut und Leistungsfähigkeit. Ihre Angst, einmal nicht stark zu sein, setzt sie andererseits hohem Druck aus. Wenn sie keine Leistung erbringt, hat sie Angst zu fallen und fragt sich, wer sie dann noch sei. Sie hat die Gabe der Stärke zu ihrer Identität gemacht und auf dieser Gabe ihren Selbstwert aufgebaut. Sie ist innerlich überzeugt, dass sie nur dann geliebt und akzeptiert werde, wenn sie stark sei. Luisa ist die perfekte Personifikation zahlreicher Menschen unserer Zeit, die noch leisten oder bereits ausgebrannt sind. Auch diese stehen unter einem enormen Druck und fragen sich, was sie für ihren  Partner oder ihre Partnerin, Familie, Arbeitsstelle oder die Gesellschaft noch wert sind, wenn sie einmal scheitern. Wird der Druck zu viel, schwinden langsam die Kräfte und ein mögliches Scheitern rückt näher. Können keine zusätzliche Kräfte mobilisiert werden, wird das Scheitern unausweichlich und der Schritt hin zur Depression ist nicht weit. Depressionen haben weltweit gesehen bereits ein pandemisches Ausmaß erreicht. Wie eine Befreiung von dem inneren Druck aussehen kann, zeigt der Film im weiteren Verlauf.

Ähnlich wie Luisa geht es aber auch Mirabels anderer Schwester Isabela. Sie besitzt die Gabe, durch ihre Schönheit ihre Umgebung mit Blumen zu verzaubern. Doch auch sie muss viel Kraft aufwenden, um die Fassade der permanenten Schönheit und Pefektion aufrechtzuerhalten und fühlt sich innerlich unfrei.

„Lass ich reihenweise blüh’n
Perfekt inszinierte Posen
Doch die sind nur mein Kostüm“

„Was könnt’ ich tun, ließ ich die Blumen blühen, so wie ich es fühle?
(Wohin wird das dich führen?)
Was könnt’ ich tun, wüsste ich nun, es muss nicht immer perfekt sein?
Es muss einfach nur sein, ich wär endlich frei“

Isabela steht dabei stereotypisch für viele Frauen der Generation X und Y, wirkt aber auch bis in die jüngeren Generationen. Während unsere Gesellschaft den Wert von Männern eher an ihrer Leistungsbereitschaft und -stärke misst, wird der Wert einer Frau von vielen vorranging an ihrer körperlichen Attraktivität gemessen. Viele Frauen setzen sich dafür unter Druck, streben nach kaum erfüllbaren Schönheitsidealen, entwickeln Ängste vor Ablehnung, Körperschemastörungen, Zwänge, Essstörungen oder werden depressiv, wenn die Attraktivität im Alter nachlässt.

Der Botschafter als Sündenbock

Schließlich ist da noch Bruno, der Onkel von Mirabel. Er wurde mit der Gabe versehen, durch Visionen in die Zukunft schauen zu können. Dass diese Gabe zugleich auch eine große Schattenseite hat, zeigt sich in der Angst der Dorfbewohner. Sie fürchten seine Prophezeiungen, da sie Angst haben, was sie sich wünschen, würde nicht in Erfüllung gehen. Tritt ein was sich die Menschen wünschen, so ist Bruno ein Held. Tritt es jedoch nicht ein, so wird Bruno dafür verantwortlich gemacht. Er wird vom Vorhersager zum Sündenbock.

„Er sagte, mein Fisch stirbt bald, schon war er hin
Er sagte, ich werde dick, nun seht, was ich bin
Er sagte, stell dich auf ’ne Klasse ein, und was ist gescheh’n?
Dir wird es geh’n, wie von ihm vorhergeseh’n

Er hat mir prophezeit
Meine Zukunft wird traumhaft und aufregend sein
Er hat mir prophezeit
Meine Kraft wächst wie Trauben am rankenden Wein
Señor Mariano ist gleich da

 

Nur kein Wort über Bruno, no, no, no
Nur kein Wort über Bruno“

Während Bruno selbst nur die Zukunft sehen kann, fängt auch er an zu glauben, er sei die Ursache dessen was er sieht. So entschließt er sich, in das Haus zu verschwinden, als er in seiner Prophezeiung sieht, dass Mirabel keine Gabe erhalten würde und die Familie in ein Unglück stürzen würde. Auch hier gibt es ein Sprechverbot in der Familie über den sonderbaren verschwundenen Onkel. Als Mirabel versucht seiner Prophezeiung auf die Spur zu kommen, findet sie ihn wieder.

Dieses Phänomen das was nicht ins Bild passt bzw. die Wahrheit zu verdrängen ist nicht selten und zeigt sich auch oft in realen Familien. In der systemischen Therapie wird hierbei vom Indexpatienten gesprochen. Dieser entwickelt eine Störung, verhält sich abweichend. Indexpatienten sind dabei in der Regel die Botschafter einer Nachricht, weil sie etwas wahrnehmen, das die anderen nicht wahrhaben möchten. Die psychische Störung des Indexpatienten hat dann eine Funktion, um das Familiensystem aufrechtzuerhalten. So kann zum Beispiel die Essstörung der Tochter von den Ehekonflikten der Eltern ablenken und die Tochter die Zuwendung erfahren, die im Ehekonflikt verloren ging. Oftmals wird das sonderbare Verhalten der Patientin nicht verstanden. Bei Überforderung der Eltern setzen diese ihr Kind oft unter Anpassungsdruck, ohne zu reflektieren, was das Verhalten des Kindes ihnen mitteilen möchte. Das Ergebnis ist noch mehr Druck, ggf. bis hin zur Ausgrenzung in der Familie.

Der Ursprung der Begabung

Bezogen auf Mirabel ist der Mangel einer besonderen Begabung die Störung. Andersherum kann aber auch die Begabung, wenn sie nicht freiwillig geschieht, als Krankheit gesehen werden. Erst im weiteren Verlauf wird deutlich, dass die besonderen Gaben der Familie Madrigal einen tragischen Ursprung haben, der sich in der Geschichte der Großmutter Alma offenbart.

Alma erzählt schließlich in einer herzergreifenden Geschichte, wie sie vor langer Zeit vor Angreifern aus ihrem Heimatdorf fliehen musste. Ihr Mann Pedro stellte sich den Angreifern mutig entgegen und wurde dabei getötet. Alma konnte mit ihren drei Kindern entkommen. Zu jenem Zeitpunkt erhielt sie eine Kerze, die sinnbildlich für das Leben, für Hoffnung, aber auch für die wundervollen Kräfte der Familie stehen. Die Superkräfte wurden somit aus dem Schmerz der Großmutter geboren. Ihr war es offenbar nicht gelungen, den Schmerz über ihren Verlust zu verarbeiten und loszulassen – loszulassen in dem Vertrauen, sich auf der anderen Seite wiederzusehen.

„Ay Mariposas, haltet euch nicht zu fest

Ihr beide erkennt, dass die Zeit euch nun trennt

Ihr findet euch im Hier und Jetzt

Ein Wunder umgibt euch, fliegt nur aus eurem Nest

Habt das Vertrau’n, ihr könnt darauf bau’n

Es kommt etwas Neues“

 

Das Festhalten an ihrem Mann Pedro im Familienmythos über die Wunder der Familie ist es letztlich, was sich über die Jahre zu einem Fluch entwickelt hat. Die Großmutter, welche durch ihre hohen Erwartungen die Familienmitglieder unter Druck setzte, war es schließlich, was das Familienhaus schließlich zum Einstürzen brachte.

Auf der einen Seite sind dort Begabungen, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Sie haben die Familie beschützt und zu ihrer Besonderheit beigetragen. Gleichzeitig setzte der Stolz und das Streben nach Perfektion der Großmutter die anderen Familienmitglieder sehr unter Druck, sodass sich diese nicht als freie Individuen fühlten, sondern stattdessen in den starren Rollenerwartungen gefangen fühlten. Sie gerieten so in einen inneren Konflikt zwischen eigenen Wünschen und Bedürfnissen und den Erwartungen der Großmutter anderseits. Als Ausdruck ihres seelischen Leidens schwanden ihre wundersamen Begabungen.

Auch hier handelt es sich um ein typisches Muster, welches bei transgenerationalen Traumata auftritt. Transgenerationale Traumata werden von Traumaüberlebenden weitergegeben. Diese überlebten oftmals entweder aus Zufall (z.B. weil die Bombe auf das Nachbarhaus fiel) oder weil schon damals eine gewisse Gabe bestand (z.B. bei einer großen Ängstlichkeit rechtzeitig der Luftschutzbunker aufgesucht wurde oder Sparsamkeit ein Verhungern verhinderte), die das Überleben sicherstellte. Im Falle eines Verlusts einer Bezugsperson kommt es häufig zu einem Gefühl von Überlebensschuld. Man empfindet es als nicht gerechtfertigt, warum eine geliebte andere Person sterben musste und man selbst überleben durfte. Durch das Schuldgefühl kann es sein, dass sich eine bestimmte Fähigkeit entwickelt, um dem Schuldgefühl entgegenzuwirken. Eine solche Fähigkeit kann beispielsweise eine große Aufopferungsgabe sein. Im Falle einer Begabung (z.B. Ängstlichkeit oder Sparsamkeit) wird diese ebenfalls oft an die nächste Generation weitergegeben. Diese ist dann oftmals selbst von der Irrationalität dieser Eigenschaft überrascht, denn obwohl man weiß, dass alles sicher ist oder es genug zu essen gibt, kommt es zu Gefühlen von Angst oder extremer Sparsamkeit. Diese werden von der nächsten Generation dann nicht mehr als Gaben, die einst das Überleben ermöglicht haben gesehen, sondern als unfreiwillige und irrationale Lasten.

Erst der Blick in die Vergangenheit der Familienangehörigen hilft manchmal, um die eine oder andere Besonderheit besser zu verstehen, anerkennen zu können und zu verarbeiten.

Mirabel – von der Scham über die eigene Unzulänglichkeit hin zur Heldin

So geschieht es auch in Encanto. Mirabel hat dabei eine besondere Rolle. Anfangs erscheint sie als die scheinbar gut gelaunte, jedoch eigentlich schamerfüllte Tochter, der keine Gabe geschenkt wurde. Sie empfindet die Scham und vielleicht auch die Trauer, welche die Großmutter verdrängen musste und so ihre Familienmitglieder unter Druck setze, sodass deren Begabungen zu schwinden schienen. Dies ist der Moment ihrer inoffiziellen Initiation. Sie macht sich auf dem Weg, um das gemeinsam verdrängte Schwinden der Begabungen der anderen, das Cerschwinden ihres Onkels Bruno, aber auch die verdrängte Trauer und Ängste ihrer Großmutter aufzudecken. Ihre bedingungslose Offenheit und Neugierde bringen schließlich die Wahrheit ans Licht. Dadurch befreit sie ihre Familienmitglieder aus den beengenden Rollen.

In dem Moment, indem die Großmutter ihre Geschichte erzählt und ihr Leid über den Verlust ihres Mannes Ausdruck verleiht, fällt der Fluch von der Familie ab. Almas Selbsteinsicht, durch ihre Perfektion die anderen Familienmitglieder unter Druck gesetzt zu haben, ermöglicht es diese neuen Wege zu gehen. So kann Isabella die Heirat des von der Großmutter favorisierten Bräutigams ablehnen und statt Blumen Kakteen zaubern. Luisa kann es sich auch einmal erlauben, Pause zu machen und nicht immer stark sein zu müssen.

Von der Isolation des Traumas in die Gemeinschaft

Der Fluch wird durch das Lüften des Familiengeheimnisses gebrochen. Das inzwischen symbolisch in Stücke zerfallene Haus der Familie kann auf einem neuen Fundament neu aufgebaut werden. Hierbei wird auch sichtbar, wie sich die Familie Madrigal von der Dorfgemeinschaft entfremdet hatte. Zwar wurde die Familie von dieser bewundert und idealisiert. Ein verbindender Austausch unter Gleichen fand jedoch nicht statt. Erst als das Geheimnis gelüftet und die Familienmitglieder aus ihren starren Rollen entlassen wurden, kommt es zum Ausdruck echter Gemeinschaft und Nähe, indem die anderen Dorfbewohner helfen, das neue Haus gemeinsam aufzubauen. Auch dieses Haus besitzt wieder wundersame Kräfte, allerdings ist es ein Produkt der Gemeinschaft und Verbundenheit.

„Das alte Haus braucht neue Fundamente

Es scheint unmöglich, doch wir sind nicht allein

Diese Familie hat Gaben und Talente

So viele Sterne, und jeder von ihnen möchte schein’

 

Doch Sterne scheinen nicht, sie brenn’

Und manches ändert sich

Es wird Zeit, nun zu erkennen

Die Gabe braucht ihr nicht

 

Ich war so streng, das tut mir leid

Aus Angst, dass ich euch auch verlier

Das Wunder, das war nie allein eure Magie

 

Das Wunder, das seid ihr, keine Gabe, nur ihr

Das Wunder, das seid ihr“

 

Und so endet der Film.