Den meisten PatientInnen ist Dissoziation nicht wirklich ein Begriff. Für klinisch tätige PsychologInnen wird der Begriff „Dissoziation“ zumeist mit dem Begriff Trauma oder Posttraumatische Belastungsstörung in Verbindung gebracht. Dissoziation ist meiner Meinung nach allerdings ein sehr viel weiter verbreitetes Phänomen und kommt aus meiner Erfahrung auch bei Menschen vor, die keine schwere körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren haben.

Was ist Dissoziation?

Der Begriff Dissoziation geht auf den französischen Psychiater Pierre Janet zurück, der als der Vater der Traumatherapie gilt und von dem Sigmund Freud einige Ideen übernommen hatte. Dissoziation bedeutet ein auseinanderfallen von psychischen Bewusstseinsinhalten. Das normale einheitliche Erleben wird so in zwei geteilt. Ein Teil ist somit bewusst, während ein anderer Teil einer Erfahrung unbewusst ist.

Dissoziation ist auch ein Alltagsphänomen

Dissoziation hat nicht zwangsläufig mit traumatischen Erfahrungen zu tun. Von einem Auseinanderfallen von Bewusstseinsinhalten kann man beispielsweise auch sprechen, wenn beispielsweise ein Film einen so in den Bann zieht, dass man vergisst, dass man eigentlich auf die Toilette muss. Ein anderes Beispiel wäre, dass man so sehr in eine Arbeit vertieft ist, dass man ganz vergisst, dass man eigentlich Hunger hat. Aber auch, wenn man tagträumt oder über eine lange Zeit Auto fährt, dass sämtliches Gefühl für die Zeit verloren geht.

Dissoziation im klinischen Sinne

In der Psychotherapie wird Dissoziation in der Regel mit Traumata in Verbindung gebracht. Im klassischen Störungsbild der Posttraumatischen Belastungsstörung ist die Dissoziation ein häufiges Phänomen. Wenn ein Ereignis die emotionale Verarbeitungskapazität des Gehirns übersteigt, kann das Gehirn die Erlebnisinhalte nicht angemessen verarbeiten und zeitlich, sowie räumlich einordnen. Beispielswiese kann ein Autounfall mit einem Brand im Tunnel dazu führen, dass aufgrund der Dissoziation auch nach dem Unfall der Anblick von Tunnel oder laute Geräusche von schreienden Menschen Todesangst auslöst oder einen Geruch von Feuer entstehen lässt, oder ähnliches was in der Unfallerfahrung ausgelöst wurde. Die Dissoziation ist somit ein Abwehmechanismus, der den Organismus davor schützt emotional überfordert zu werden.

Dissoziation als körpernahes Phänomen

Dissoziation ist in extremen Situationen ein biologische Reaktion und geht mit dem Freeze-Verhalten einher. Dieses Freeze-Verhalten kann man in zahlreichen Tierdokus beobachten, bei denen beispielsweise ein Löwe eine Gazelle jagt und diese kurz vor dem Biss völlig zusammenklappt und scheinbar bewusstlos wird. Dieser Mechanismus schützt vor Angreifern, da das plötzliche Erstarren den Jagdtrieb hemmt, da Jäger in der Regel wenig Interesse an Aß oder unlebendiger Beute haben. So schützt beispielsweise das Freeze die Maus vor der Katze, die nur spielen möchte und eigentlich gar keinen Hunger hat. Dissoziation führt zu einer Reduktion der Lebendigkeit. Die Atmung wird heruntergefahren, ebenso wie die Verdauung und auch der Herzschlag wird verringert, was bei einer Verletzung vor dem Aussterben schützt. Das „herunterfahren“ sämtlicher Kreislauffunktionen kann bis zur vollen Bewusstlosigkeit führen. Die Abwesenheit von Körperbewusstheit macht den Körper unempfindlich für Schmerz. Dieser Vorgang geschieht über den sogenannten dorsalen Vagusnerv, der als Teil des peripheren Nervensystems immer in extremen Überforderungssituationen aktiviert wird.

Dissoziation führt dabei allerdings nicht immer bei jedem Menschen sofort zum sofortigen freeze-Zustand doer shut-down. Stattdessen gibt es feine Nuancen von Dissoziation. Manche Menschen erleben Dissoziation somit zum Beispiel durch einen Druck im Kopf oder auch durch ein nebeliges Gefühl. Bei einem stärkeren Auftreten kann es sein, dass die Augen außerlich erstarrt wirken und man selbst das Gefühl hat nicht ganz bei sich zu sein. Es gibt somit feine Abstufungen zwischen verschiedenen Formen oder Graden von Dissoziation.

Das Problem an der Dissoziation

An sich ist Dissoziation somit eine gesunde Überlebensreaktion auf extreme Überforderungszustände. Problematisch an der Dissoziation ist allerdings, dass die Abspaltung von Bewusstseinselementen auch dazu führt, dass diese nicht integriert werden können. Wenn beispielsweise die zeitliche Dimension dissoziiert wird, lernt der Organismus nicht, dass die Gefahr eigentlich vorbei ist und wieder zurück zu seinem normalen, lebendigen Zustand zurück kann. Schon kleine Trigger können dann wieder in den Freeze-Zustand führen. Da der Freeze-Zustand mit einer verminderten Lebendigkeit und einer verminderten Konzentration einhergeht, ist dieser nachdem die Gefahr vorbei ist nicht länger hilfreich, um in einer sicheren Umwelt zu leben und sich lebendig zu fühlen.

Dissoziation bei anderen Störungsbildern

Dissoziation wird in der Regel mit Traumafolgestörungen in Verbindung gebracht. Die dort auftretenden Dissoziationsphänomene sind dabei sehr offensichtlich. Entsprechend gibt es auch zahlreiche traumabedingte Diagnosen. Dissoziation ist allerdings ein weitaus weiter zu verstehendes Phänomen, das aus meiner Sicht bei fast allen psychischen Störungen auftritt. Dissoziation kann hier als ein Schutzmechanismus verstanden werden, der das Nervensystem vor einer Überforderung durch ein zu starkes emotionales Erleben schützt. Wenn ein Kind beispielsweise im Laufe seines Lebens kein gegenüber hat, welches ihm bei der Regulation seiner Gefühle unterstützt, so führt dies auch bei kleinen Auslösern zu starken Gefühlen. Wenn das Kind diese dann nicht angemessen verarbeiten kann, kommt es dazu, dass die Gefühle abgespalten werden müssen. Wer beispielsweise in einem Haushalt aufwächst, in dem Gefühle keinen Platz haben oder Menschen mit Gefühlen beschämt werden, kann es eine sehr hilfreiche Strategie sein, diese abzuspalten. Das führt jedoch in der Regel dazu, dass auch alle anderen positiven Gefühle abgespalten werden müssen. Da Emotionen sehr körpernah erlebt werden, kann es zudem dazu kommen, dass auch andere Körperzustände weniger gespürt werden. Das wiederum hat weitreichende Auswirkungen, da auch Bedürfnisse über den Körper vermittelt werden und das nichtspüren und somit nicht erfüllen unserer Bedürfnisse auf lange Sicht krank macht.

Wie Psychotherapie hilft

Psychotherapie hilft, da durch die offene Haltung des PsychotherapeutIn mit der Zeit ein schrittweiser Zugang zum eigenen Erleben hergestellt werden kann. PsychotherapeutInnen sind in der Regel sehr viel kompetenter beim Umgang mit schwierigen Emotionen und werden ihr Gegenüber für das aufkommen von starken Gefühlen nicht verurteilen. Indem bisher verdrängte Erlebnisse im Therapieprozess bewusster werden und die damit verbundenen Gefühle in den Fluss kommen, verlässt der PatientIn einerseits den Zustand des eingefroren seins und lernt andererseits einen neuen Umgang mit Gefühlen. Gefühle müssen dann nicht mehr als gefährlich erlebt und abgespalten werden, sondern können sich dann natürlich ausdrücken. Das Ergebnis ist dann in der Regel ein neues inneres Gleichgewicht, mehr Ausgeglichenheit, mehr Positivität, Nächstenlieben und Resonanzfähigkeit im Umgang mit anderen Menschen.